«Die meisten Berufe von 2030 existieren noch nicht»

Der Erfolg in der Arbeitswelt von morgen hänge weniger von der Berufswahl als von der Einstellung zum Lernen ab, sagt Zukunftsforscherin Isabelle Chappuis. Das Karrieremodell «Ausbildung – Arbeit – Ruhestand» habe ausgedient.
Isabelle Chappuis, die Pandemie hat die Arbeitswelt verändert. Welche Entwicklung ist die wichtigste?
Die Geschwindigkeit, mit der fast alle auf Homeoffice umgestiegen sind. Viele Berufe konnten sofort von zu Hause ausgeübt werden. Die Betroffenen sind plötzlich in einem globalen Arbeitsmarkt. Wenn sie gut sind, liegt ihnen die ganze Welt zu Füssen, aber wenn sie «nur» qualifiziert sind, ist die ganze Welt ihre Konkurrentin. Unsere Vorstellung von Raum und Grenzen wurde auf den Kopf gestellt.
Flexibles Arbeiten scheint sich durchzusetzen. Ist das von Dauer?
Unsere Arbeitsgewohnheiten haben sich nachhaltig verändert. Viele Arbeitgeber bieten jetzt mehrere Tage Homeoffice an, während es früher für einen einzigen Tag komplizierter Vereinbarungen bedurfte. Homeoffice wird vielen zugänglich, das ebnet Telemigration den Weg.
40 Prozent unserer Kompetenzen sind nach drei Jahren veraltet.
Isabelle Chappuis
Das bedeutet?
Die wirkliche Arbeitsmigration wird durch die digitale Hintertür erfolgen. Ein KMU mit Gewinndruck automatisiert seine Prozesse oder vergibt den Auftrag einem Telemigranten in einem anderen Land, der die Arbeit ebenso gut und gar billiger erledigt.
Werden wir noch einen festen Job haben?
Der Trend geht Richtung Gig Economy: Menschen kommen von überall zusammen, um gemeinsam ein Projekt durchzuführen. Ist es abgeschlossen, geht jeder wieder seiner Wege. Viele Arbeitgeber haben die Zahl ihrer Festangestellten bereits reduziert, beschäftigen stattdessen Leute auf Auftragsbasis. Das Unternehmen gewinnt an Agilität, die es ermöglicht, seine gesamte Branche schnell auf die Bedürfnisse des Marktes umzustellen.
Ein Trend mit fatalen Folgen.
Jein. In den USA hat die Pandemie dazu geführt, dass Angestellte massenhaft gekündigt haben. Die Menschen sind auf der Suche nach Sinn und haben ein grösseres Bedürfnis nach Unabhängigkeit. Sie haben heute mehr als einen Beruf – nicht, weil sie finanziell dazu gezwungen sind, sondern weil sie es wollen und jetzt auch können. Tagsüber haben sie einen anstrengenden Job, abends produzieren sie aus Freude handgemachte Seifen oder erstellen Websites. Früher war klar: Der Arbeitgeber gab Sicherheit, der Arbeitnehmer Loyalität. Da die Unternehmen heute keine Sicherheit mehr bieten, fühlt sich der Arbeitnehmer nicht mehr verpflichtet. Der Arbeitgeber will Engagement, und der Arbeitnehmer sucht nach Arbeitsmarktfähigkeit.

Die Zukunftsforscherin
Isabelle Chappuis (51) ist studierte Betriebswirtschafterin (HSG) und Leiterin des Swiss Center for Positive Futures an der Wirtschaftsfakultät der Universität Lausanne. Seit 2021 ist sie im Verwaltungsrat des Migros-Unternehmens Miduca. Chappuis ist technikbegeistert und antizipiert die Entwicklung der Berufe und neuer Gesellschaftsmodelle.
Buchtipp: Isabelle Chappuis, Gabriele Rizzo: «HR Futures 2030», Verlag Routledge Academic, für Fr. 52.– bei exlibris.ch
Welche Fähigkeiten muss man heute haben?
Kompetenzen veralten sehr schnell. Eine Liste zu erstellen, ist deshalb schwierig. Wichtig ist, lernfähig zu bleiben und in der Lage zu sein, Probleme und Gelegenheiten antizipieren zu können. Eine Schlüsselkompetenz ist Resilienz – die psychische Widerstandsfähigkeit – um sich an die immer schnelleren Veränderungen anzupassen. Wir müssen auch die Fähigkeit haben, Entwicklungen zu antizipieren. Neugierig zu sein, wird zu einer weiteren zentralen Kompetenz. Heute geht alles viel schneller und kann sich in kürzester Zeit ändern.
Von welchen Berufen würden Sie Ihren Kindern abraten?
Es gibt ein Szenario, nach dem 80 Prozent der Berufe, die es 2030 geben wird, heute noch nicht existieren. Im Grunde geht es nicht um die Berufswahl, sondern um die Einstellung zum Lernen. Man muss ein Leben lang lernen. Ich würde meinen Kindern Berufe empfehlen, die ihr intellektuelles Kapital und ihre emotionalen Fähigkeiten fordern und bei denen sie die Komplexität der Umwelt nutzen müssen – all das kann eine Maschine noch nicht leisten.
Das heisst konkret?
Oft verschwinden Berufe nicht wirklich, aber sie entwickeln sich sehr schnell. Die Sekretärin, wie man sie in den 1950er-Jahren kannte, ist heute Verwaltungsassistentin. Sie tippt weniger, macht aber Termine mit Siri, ihrer digitalen Assistentin. Deshalb ist es wichtig, seine Kinder niemals am Träumen zu hindern. Einige Träume werden sich in Luft auflösen, andere werden dafür erreichbarer, zum Beispiel, Astronautin zu werden. Die Weltraumwirtschaft wird in den kommenden 20 Jahren boomen. Entwickler eines Weltraumbahnhofs in der Stratosphäre könnte ein Beruf der Zukunft sein.
Für Psychologen wird es wohl immer Arbeit geben.
Isabelle Chappuis
Roboter werden Millionen von Jobs übernehmen. Ersetzen Algorithmen die Arbeit?
Nein, sie werden sie weiterentwickeln und deren Bedeutung potenziell ganz ändern. Wir werden nicht mehr aus denselben Gründen arbeiten, nicht mehr an denselben Orten und zu denselben Zeiten. Die Technologie ist weder gut noch schlecht, aber sie ist auch nicht neutral. Es kommt darauf an, wie man sie nutzt. Vielleicht wird es keine Kassierer mehr geben, aber man wird eine Einkaufscoachin benötigen. Auch der Beruf der Historikerin ist sehr gefragt, etwa in der Spieleindustrie, um die Epochen in den Videospielen wahrheitsgetreu nachzustellen. Und für Psychologen wird es wohl immer Arbeit geben – zum Beispiel, um jungen Menschen zu helfen, mit ihren multiplen Profilen umzugehen und inmitten all ihrer Avatare Halt und Gelassenheit zu bewahren.
Sie glauben nicht mehr an das Modell «Ausbildung – Arbeit – Ruhestand». Wieso nicht?
Das, was wir in den ersten 20 Jahren unseres Lebens lernen, reicht nicht mehr aus. Das Leben wird in mehrere Phasen aufgeteilt: Studium, Arbeit, erneutes Studium und so weiter. Sicher ist: unsere Einstellung zum Lernen muss sich ändern. Wir müssen uns darauf freuen, zum Beispiel auf alle möglichen Onlinekurse und -schulungen, die meist auch noch gratis sind.
Wie wird das Berufsleben der Zukunft aussehen?
Schnell, stets in Veränderung, faszinierend und … anstrengend! 40 Prozent unserer Kompetenzen sind nach drei Jahren veraltet. Wir werden uns also alle mindestens einmal pro Jahrzehnt – und mehrmals im Leben – neu erfinden müssen.
Foto/Bühne: Getty Images
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